Die Älteren erzählen von den schönen Maiandachten. Jeden Tag sind sie dort gewesen und haben die schönen Marienlieder mitgesungen. Und dann die schönen Wallfahrten zu den Marienheiligtümern. Maria gehörte zum Glaubensleben bis in die letzte Stunde:
„Heilige Maria, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“
Und mit dem Rosenkranz um die Hand gewickelt und dem Kreuz in der Hand wurde der katholische Christ in den Sarg und in das Grab gelegt.
Heute zerren viele an dieser Frau herum. Die einen heizen ihr Gefühl eine wenig an mit einem solistisch dargebotenen „Ave Maria“ von Gunod oder Schubert bei der Hochzeit oder Trauerfeier, oder einem gefühlsträchtigen „Patrona bavariae“ in der Schlagerparade. Andere sind kulturgeschichtlich informiert und können mit aufgeklärter Überlegenheit ganz genau erklären: Die Marienverehrung ist die katholische Variante der Verehrung der Urmutter und heidnischen Göttin der Erde und Fruchtbarkeit.
Die einen meinen:
Nur noch Maria könne die Kirche vor dem Niedergang und unsere Welt vor dem drohenden Verderben retten. Andere können nicht genug tun, um sie von ihrem Podest herabzuziehen und unter die gewöhnlichen Menschen zu stellen. Sie wissen ganz genau, dass das mit der Jungfräulichkeit im besten Fall eine mythologische Aussage, wenn nicht gleich ein Unsinn ist. Und Maria hatte mit Josef sicher auch noch mehrere Kinder, nicht nur den berühmten Jesus.
In der Heilig Geist-Kirche wurde nun eine neue Maria mit dem Kind aufgestellt. Sie greift das alte Motiv der Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf. Sie möchte aber dann doch Menschen in der jetzigen Zeit etwas sagen, ihnen helfen, ihr Leben der heutigen Welt aus dem Glauben an Gott und Jesus Christus zu deuten.
Maria ist ja auch heute noch die Mutter der Glaubenden. Sie schaut zuerst nach innen. Man sagt nicht ganz zu Unrecht, dass die Augen die Fenster zu Seele sind. Bei allen Darstellungen von Menschen sind es vor allem die Augen, die den Blick, die ausdrücken und sprechen.
Bei der Madonna in der Heilig-Geist-Kirche sind die Augen fast ein wenig stumpf. Es mag das mit auch die Folge des Materials Bronze sein. Man meint fast, wenn man länger hinsieht, die Augen schauen mehr nach innen, als in die Ferne. Dieser Eindruck ist wert, dass man ein wenig dabei verweilt. Sie schauen und lauschen in ihr Inneres, in ihr Herz, in die Mitte Ihrer Person und ihrer Existenz.
Es ist, als wollten sie sagen:
Dort ist unser größter Reichtum, dort ist die Quelle unseres Lebens und unserer Kraft, aus der wir schöpfen. Wir haben einen schweren Auftrag und eine große Sendung in der Welt. In unser Mitte ist der Geist Gottes. Auf ihn schauen und aus ihm schöpfen wir.
Wir Menschen heute sind übermäßig von außen gesteuert. Übermäßig, fast in jedem Augenblick unserer wachen Zeit, dringen die mächtigen Einflüsse von außen an uns heran und bemächtigen sich unserer Aufmerksamkeit und damit unserer Person. Unsere Aufmerksamkeit, und damit wir selber, gehören dem Lautsprecher, der Bildschirm, dem, was wir zu lesen vorgesetzt bekommen. Das ist sicher nicht schlecht und es wird viel Interessantes, Spannendes, Gutes geboten.
Jedoch unser eigenes Ich ist in uns, in unserer Tiefe. Dort ist der Platz, wo unser Leben eigentlich geschieht, wo wir glücklich oder unglücklich, traurig oder froh, gut oder böse sind. Dort ist der Platz, wo Hoffnung und Verzweiflung, Liebe oder Angst, Einsamkeit oder Geborgenheit, Gottlosigkeit oder Glaube und Vertrauen sind.
Von Innen, nicht aus dem Bildschirm oder Lautsprecher, kommt die Kraft zum Leben, zur Liebe, zur Versöhnung, zum Leiden. Und die Botschaft, der Mutter mit ihrem Kind an uns moderne Menschen ist: Ihr braucht die stillen Stunden in euren Leben, in denen ihr in die Tiefe euerer Person schaut und dort verweilt. Dort erlebt ihr die Gegenwart Gottes. Dann habt ihr die Gelassenheit und die Kraft, den Auftrag und die Belastungen des Lebens anzugehen.
In der Überlieferung von alters her wird Maria als die Jungfrau und Mutter bezeichnet und verehrt, wie viel wird um diese Worte herumgedeutet und herumgestritten. Von bösen und gemeinem Spott bis zu kindlichem Glauben gibt es alles. Aber schauen wir unsere Darstellung an, dann können wir daraus für unsere Zeit und für unser Leben eine Deutung erspüren. Sie ist die Mutter. Ihr Leib ist nach innen gewölbt, ihre Arme suchen das Kind an sich zu ziehen.
Sie sagt durch die Haltung ihres Leibes und ihrer Hände gleichsam zu ihrem Kind:
Drück dich an meinen Leib und in meine Arme. Hier findest du die Wärme, die du brauchst.
Hier bist du geschützt und geborgen.
Und das gleiche will sie mit uns machen. Sie will uns an sich drücken und ihre mütterliche Wärme spüren lassen. Wenn wir uns in unseren Nöten und Sorgen an sie drücken, dann können wir die wunderbare Geborgenheit im Herzen spüren, die auch frühere Generationen immer wieder zu Maria geführt haben.
Es mag noch so viel über die Emanzipation der Frauen geredet werden – vieles davon ist auf jeden Fall berechtigt – die Frauen heute finden sicher ihre Erfüllung auch in der Berufsarbeit und wünschen sich, dass sie auf der Karriereleiter in der Wirtschaft oder Wissenschaft nach oben klettern. Aber diese Urrolle der Mutter, die hier in Maria mit Jesuskind dargestellt ist, die kann ihr niemand abnehmen. Und vielleicht gehören, trotz aller modernen Lebensangebote, für eine Frau die Augenblicke, in denen sich ihr Kind an sie drückt und sie die Arme um es schließen zu den schönsten und glücklichsten.
Wir alle spüren, wie in unserer Zeit das Miteinander und Füreinander abnimmt. An ihre Stelle tritt das eiskalte Rechnen: Was hab ich davon, macht es mir Spaß, kann ich etwas erleben. Und die Menschen werden dabei nicht glücklicher und besser, eher einsamer und das menschliche Miteinander wird kälter. Es dringt wohl bei uns die tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Wärme nach außen, wenn wir auch heute noch singen: „Maria breit den Mantel aus“ oder „segne mich dein Kind“.
Aber auch die andere Seite der Frauenrolle kommt zum Ausdruck. Sie wird ausgedrückt durch die Bezeichnung Jungfrau. Es führt überhaupt zu nichts, hier eine medizinisch biologische Diskussion anzuzetteln. An der Statue können wir schön ablesen, was geistig mit dem Titel Jungfrau gemeint ist.
Maria ist die Mutter. Aber sie hält auch mit beiden Händen ihr Kind vor sich. Es ist, als wollte sie zu den Menschen und zur Welt sagen: Da, nehmt ihn. Er gehört nicht mir. Meine von Gott gegebene Berufung, mein Lebensauftrag und mein Lebensinhalt ist es, ihn den menschgewordenen Gottessohn in die Welt zu bringen. Mein ganzes Leben investiere ich in diesen Auftrag. Jungfrau sein bedeutet ganz da sein für seine Bestimmung, für seine Berufung, für seinen Dienst an einer neuen Erde, am Reich Gottes. Maria ist auch die Frau, die mit ihrer ganzen Energie, uneingeschränkt und selbstbewusst sich auf die Seite des Gottes stellt, der „Großes an ihr getan hat“, „der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, der die Hungernden mit Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen lässt“.
In dieser Jungfrau Maria kann sich jede Frau finden, die sich in der Gesellschaft engagiert, kämpft für Versöhnung und Frieden, für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Dann fällt unser Blick sofort auf das Jesuskind. Wir erwarten ein Kind, lieb und freundlich, wie eben Kinder sind. Dieses Kind aber hat ein gespaltenes Gesicht und das Kreuz ist ihm schon in den Leib eingegraben.
Das Kind mit dem zerstörten, zerschnittenen Gesicht steht für die Millionen unschuldiger Kinder, die abgetrieben werden, die irgendwo auf der Welt misshandelt werden, die irgendwo in den Elendsvierteln der Südhalbkugel ausgesetzt werden, verhungern, verkommen, und als Straßenkinder, wie Hasen gejagt und umgebracht werden. Das Leben all dieser kleinen Menschenwesen ist jämmerlich zu Ende, bevor es begonnen hat. Sie sind um das Leben betrogen, konnten nie sorglos und glücklich spielen, lernen und glücklich sein. Sie haben von Anfang an nie eine Gelegenheit gehabt, aus ihrem Leben etwas zu machen. Ist dieses angefangene Leben völlig sinnlos und absurd und völlig sinnlos zugrunde gegangen?
Alle diese Millionen von Kindern sind in dem Kindergesicht des Kindes von Bethlehem aufgenommen. Bis in ihr Elend ist Gott hinabgestiegen, als er Mensch wurde. Der Riss von Elend und Bosheit, der durch das Antlitz der Welt geht ist diesem Kind ins Gesicht gegraben. Vielleicht ist ein tröstlicher Gedanke aus dem Glauben anzuknüpfen.
Alle diese abgetriebnen verlorenen und getöteten Kinder wurden am Anfang ihres Lebens gekreuzigt. Sie haben auf dieser Welt nicht gelebt. Aber vielleicht geht es ihnen wie Jesus Christus, dass Gott, das Leben, das auf der Welt nicht gelebt wurde in seinem Leben, in seiner Herrlichkeit vollendet. Dass die Kinder das, was die auf der Welt hätten sein können und sollen im neuen Leben Gottes vollendet und herrlich sein dürfen.
Er hat dreißig Jahre gelebt, aber dann wurde er als Verbrecher unschuldig ans Kreuz geschlagen und starb jämmerlich und schmerzvoll am Karfreitag. Das ist ihm schon als Kind auf den Leib geschrieben. Und alle, die in ihren Krankheiten und Leiden, alle, die irgendwo Opfer sind, alle, die in sich sinnlose Wut oder Verzweiflung auf- steigen fühlen und zum Himmel schreien: Warum?, Gott wo bist du? Alle diese können auf den schauen, der auch von Kind an das Kreuz am Leib getragen hat und dann am Karfreitag seinen Weg zu Ende gegangen ist.
Aber es war nicht ein sinnloses Ende. Das Entscheidende seines schicksalhaften Weges kam dann. Aus der tiefster Erniedrigung des Kreuzestodes wurde Leben, neues Leben, erfülltes, vollendetes Leben in der Herrlichkeit Gottes. In dem verklärten Gesicht des Kindes schimmert schon die Auferstehung durch, diese Öffnung auf Leben.
Wenn sie besinnlich schauend vor dieser Figur stehen, dann sehen Sie nicht nur ein Kunstwerk. Sie können eine Heilsbotschaft und eine Deutung für ihr eigenes Leben ablesen.